Nach dem Tod eines Jugendlichen durch den Schuss eines Polizisten kommt Frankreich nicht zur Ruhe. Busse und Bahnen sollen abends nun nicht mehr fahren. Das Auswärtige Amt aktualisierte seine Reisehinweise.
Latifa Ibn Ziaten hat den Trauermarsch in Nanterre sichtlich schockiert verlassen. „Ich bedauere die Gewalt“, äußert die Französin, die als Mutter Courage der Banlieue gilt. Seit ihr Sohn Imad, ein Soldat, im März 2012 von einem islamistischen Terroristen ermordet wurde, kämpft die Frau mit dem Kopftuch täglich in Schulen, Sozialzentren und in Gefängnissen gegen den Hass.
Es hat der 63 Jahre alten Frau mit marokkanischen Wurzeln nicht gefallen, was sie bei der Demonstration für Nahel M., den von einem Polizisten erschossenen Jugendlichen, am Donnerstagnachmittag erlebte. „Ich sah eine Jugend, die mit der Gesellschaft gebrochen hat“, sagt sie. Sie habe versucht, mit den wütenden Jugendlichen zu reden. Doch die Gewalt machte auch vor ihr nicht halt. „Ich konnte gerade noch weggeschleust werden“, twittert sie.
Die Gewalt hatte Nanterre, den Vorort gleich hinter den Wolkenkratzern des Geschäftsviertels von La Défense, bis in die frühen Morgenstunden am Freitag im Griff. In vielen Vorstädten wurde randaliert. Erstmals kam es auch zu Zwischenfällen in der Innenstadt von Paris. Randalierer plünderten ein Sportgeschäft und zerschlugen Schaufenster nahe der Metrostation Châtelet. „Alle hassen die Polizei“
875 Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums im ganzen Land festgenommen und 249 Polizeibeamte verletzt. Im Großraum Paris waren 5000 Polizisten im Einsatz, im ganzen Land 40.000. 79 Polizeikommissariate und Kasernen der Gendarmerie wurden angegriffen und beschädigt. Zu der Schadensbilanz zählen auch 34 Rathäuser und 28 Schulgebäude. Die Randalierer attackierten zudem das erste Mal Banken und Geschäfte.
„Alle hassen die Polizei“, skandierten die Demonstranten bei dem Marsch, zu dem die Mutter des getöteten Jugendlichen aufgerufen hatte. Die Vorsitzende der Grünen, Marine Tondelier, wie auch ein Verantwortlicher der Linkspartei LFI, Manuel Bompard, nahmen teil. Die Mutter von Nahel M. ließ sich während des Protestzuges bejubeln und stand mit einem Leuchtfeuerwerk auf einem Wagen. Auf ihrem T-Shirt stand „Gerechtigkeit für Nahel“.
Etwa 6200 Personen nahmen nach Polizeiangaben an dem Marsch teil, darunter auch die Aktivistin Assa Traoré, die Verbindungen zur amerikanischen Black-Lives-Matter-Bewegung unterhält. Das Mahnmal zur Judenverfolgung in Nanterre wurde mit feindlichen Parolen gegen die Polizei beschmiert: „Kein Pardon und kein Vergessen für Nahel“.
Der öffentliche Nahverkehr wurde in vielen Vorstadtvierteln um 21 Uhr eingestellt, „aus Schutz für die Fahrer und Reisenden“, wie Regionalratspräsidentin Valérie Pécresse sagte. Die Haltestelle Nanterre Präfektur blieb aus „Sicherheitsgründen“ auch am Freitag für die Nahverkehrsbahn geschlossen.
Am Nachmittag teilte Innenminister Gérald Darmanin mit, er habe die Präfekten in den Regionen angewiesen, dass von 21 Uhr an Busse und Straßenbahnen nicht mehr fahren sollen. Auch der Verkauf von Feuerwerkskörpern, von Benzinkanistern sowie entzündlichen und chemischen Produkten solle systematisch unterbunden werden. Macron appelliert an Eltern
Die Regierung fürchtet eine weitere Nacht der Ausschreitungen. Präsident Emmanuel Macron hat den EU-Gipfel in Brüssel frühzeitig verlassen, um eine weitere Krisensitzung in Paris zu leiten. Nach den Republikanern hat jetzt auch das Rassemblement National (RN) gefordert, die Notstandsgesetze aus der Zeit des Algerienkrieges zu aktivieren. Sie erlauben nächtliche Ausgangssperren und waren bereits bei den Banlieue-Unruhen 2005 verhängt worden.
Innenminister Gerald Darmanin schloss am Abend die Ausrufung des Notstandes nicht mehr aus. „Wir schließen keine Hypothese aus, und wir werden nach heute Abend sehen, wie sich der Präsident der Republik entscheidet", sagt er dem Sender TF1 am Freitagabend. Frankreichs Premierministerin Elisabeth Borne bezeichnete die Proteste als „unerträglich und unentschuldbar". Alle Optionen würden in Betracht gezogen, um die Lage zu beruhigen – auch die Ausrufung des Ausnahmezustands. Borne kündigte an, die Polizei werde bei künftigen Einsätzen bei den Protesten gepanzerte Fahrzeuge nutzen, zudem würden „zusätzliche mobile Einsatzkräfte" bereitgestellt. In ganz Frankreich würden Großveranstaltungen abgesagt, die „Personal binden und ein mögliches Risiko für die öffentliche Ordnung darstellen", sagte Borne weiter. Am Freitagabend teilte die Polizei zudem mit, mit der Räumung der Place de la Concorde – dem größten Platz in Paris – begonnen zu haben.
Das Auswärtige Amt aktualisierte seine Reisehinweise für Frankreich. Reisende werden aufgefordert, sich angesichts der Krawalle über die Lage vor Ort zu informieren und „weiträumig Orte gewalttätiger Ausschreitungen“ zu meiden.
Nach einer Krisensitzung in Paris forderte Macron, Onlinenetzwerke dazu auf, „besonders sensible“ Inhalte zu den Ausschreitungen zu löschen. Er erwarte von Plattformen wie Snapchat oder TikTok verantwortliches Handeln, sagte der Präsident. Dort würden „gewalttätige Versammlungen“ organisiert, auch werde bei den jungen Nutzern zu einer „Art Nachahmung von Gewalt“ angeregt. Man werde auch die Identität der Nutzer anfordern, wenn diese Onlinedienste nutzten, um die Gewalt anzustacheln.
Macron appellierte auch an die Eltern, dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder nicht an den gewaltsamen Protesten beteiligten. Rund ein Drittel der 875 in der Nacht von Donnerstag auf Freitag Festgenommenen sei „jung, manchmal sehr jung“, so der Präsident. „Es ist die Verantwortung der Eltern, sie zuhause zu behalten.“
Auch Ibn Ziaten wandte sich an die Eltern der Randalierer: „Bringen Sie Ihre Kinder zur Vernunft. Gewalt kann nicht die Lösung sein. Wer seine Umgebung zerstört, der schadet sich selbst. Ihr habt Besseres als Unruhen verdient!“